Hamburg: Helden jenseits der Autobahn

Das Leben in Deutschland ist schrecklich. Zu viele Möglichkeiten, zu viele Entscheidungen, die es zu treffen gilt. Wo arbeiten, wo wohnen und vor allem mit wem. Wie leben, lautet die große Frage, an der viele zerbrechen. Wir lamentieren, fahnden auf Datingsites nach dem perfekten Partner, scannen Jobbörsen nach dem nächsten Karriereschub und analysieren gleichzeitig den Immobilienmarkt nach idealem Wohnraum für das schöne, richtige Leben. Man muss sich nur entscheiden, so sagt man.

Unter uns leben Menschen, die haben sich entschieden. Sie sind Helden, nur leider unsichtbar für uns, die wir mit der Suche nach dem guten Leben beschäftigt sind. Sie leben in Behelfsunterkünften, in Wohncontainern irgendwo hinter der Autobahn auf dem platten Land. Oder, schlimmer noch, als Menschen ohne rechtlichen Status in unseren Straßen.

Seit sie sich entscheiden mussten, ihre Heimat zu verlassen, sind oft schon viele Jahre vergangen. Jahre, in denen viele von Ihnen mit ihren Familien oder ganz allein auf der Flucht waren. Mit den halsbrecherischsten Transportmitteln waren sie auf den abenteuerlichsten Straßen unterwegs, waren geldgeilen Schleusern ausgeliefert und mussten manchmal monatelang im Ungewissen ausharren bis es endlich weiterging auf dem steinigen Weg Richtung Sicherheit und Freiheit, für den sie sich entschieden haben, sich entscheiden mussten.

So auch Familie P. Sie befand sich irgendwo in Pakistan in solch einer ungewissen Situation. Hoffend, bangend. Tagelang, Wochenlang. Wo genau sie sich befanden, kann heute niemand mehr so genau sagen. Zu lang, zu unübersichtlich war ihr Fluchtweg bis dahin, der sie zumeist nachts in verschiedenen Fahrzeugen an diesen Ort führte, an dem sie nach eigenen Aussagen ungefähr 2 Monate ausharren musste, ohne bei Tageslicht die Unterkunft verlassen zu dürfen.

Das es nicht ganz einfach werden würde war klar. Klar war auch, dass die Familie raus musste aus Afghanistan, raus aus Herat, raus aus der Situation, die Herrn P. die wohl schwerste Entscheidung seines Lebens abverlangte. Der Vater, ein stolzer und würdevoller Mann, musste handeln, um seine Familie zu schützen.

Schon nach Herat kam die Familie nach einer Entscheidung des Familienoberhauptes. Damals, 2002, mussten sie raus aus Kabul. Zu allgegenwärtig war der Krieg, der Terror, der alltägliche Wahnsinn. Für afghanische Verhältnisse lebte es sich ruhig in Herat. Detonationen und Kampfflugzeuge waren auch hier zu hören, na klar, allerdings meistens aus der Distanz und nicht so unmittelbar wie in der Hauptstadt.

Herat wurde zur neuen Heimat, so etwas wie Alltag kehrte ein für Herrn P. und seine Familie. Bis die Töchter keine Kinder mehr waren und die Begehrlichkeiten älterer Männer weckten. Erst verhalten, dann immer offensiver. Einer dieser älteren Männer, ein Polizist, begehrte so sehr, dass er begann, seine Machtposition auszunutzen. Wenn der Vater die Tochter nicht freigebe, würde etwas Schlimmes passieren, drohte er. Die Lage wurde gefährlich für die Familie. Es gab niemanden, an den der verzweifelte Vater sich hätte wenden können auf der Suche nach Schutz. Polizisten, so bereichtet die Familie, stehen kraft ihres Amtes über dem Gesetz.

Für das Leben seiner Töchter gab es also nur eine vernünftige Entscheidung: Raus aus Herat, als Ziel die Sicherheit Deutschlands vor Augen, in das Land, in das sich schon zuvor Verwandte aufgemacht haben auf der Flucht vor Tod und Gewalt und von dem die Familie viel Gutes gehört hatte.

Es begann eine mehrmonatige Odyssee durch Afghanistan, durch Pakistan, den Iran, die Türkei, um dann, irgendwann, in Hamburg anzukommen. Hier ging die Reise weiter. Nach Stationen in provisorischen Unterkünften, der unsäglichen, gefängnisgleichen Erstaufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst in Mecklenburg-Vorpommern bis in ein Asylbewerberwohnheim, das, aus Hamburger Perspektive, irgendwo jenseits der A1 liegt. Hier teilen sich Mutter, Vater und eine Tochter heute ein etwa 12 qm² großes Zimmer in einem Wohncontainer, an jeder Wand eine kleine Matratze, die als Privatsphäre ausreichen muss. Dazu ein kleiner Tisch, ein Fernseher und drei Spinde zum Verstauen der Gegenstände, die die Flucht überstanden haben. Küche und Bad benutzen außer Familie P. noch drei weitere Familien. Das ist der Preis, den die Familie zahlt für die Entscheidung, ihre Heimat zu verlassen, um in Sicherheit leben zu können.

Und das ist nicht alles. Zu der Enge kommen alltägliche Demütigungen, die die Familie über sich ergehen lassen muss. Für den stolzen Vater ist es unmöglich, seine Familie durch eigene Arbeit zu ernähren und eine eigene Wohnung zu finden. Die Duldung, die ihm die Ausländerbehörde ausgesprochen hat, steht dem im Wege. Solange der Status nicht verändert und in eine Aufenthaltserlaubnis umgewandelt wird, ist die Familie zu Passivität verdammt. Besonders perfide ist die Unberechenbarkeit dieses Prozederes. Keiner der Menschen im Wohnheim kann verlässlich sagen, ob und wann sich der Aufenthaltsstatus ändern wird. Jederzeit kann die Duldung aufgehoben werden und in eine so genannte Rückführung münden. Eine Abschiebung zurück in die Verhältnisse, gegen die sich Herr P. vor nunmehr fast zwei Jahren entscheiden hat und in denen heute mehr Gefahren lauern denn je.

So bleibt der Familie nichts anderes übrig als zu warten Warten in der Ausländerbehörde, etwa um nur mal nachzufragen, ob die Tochter die Stadt für eine eintägige Schulfahrt verlassen darf, warten am Telefon bei dem Versuch einen Ausländerbehördenmitarbeiter zu erreichen, während die Wartschleife den hervorragend passenden Song ‚Just When I Needed You Most’ von Randy Vanwarmer, in dem es zynischerweise ums Verlassen und Verlassenwerden geht, aufbietet. Das Lied wirkt wie eine Erinnerung an die permanent drohende Rückführung. Mit Familie P. warten Tausende Menschen mehr aus Gründen, die wir kaum nachvollziehen können, weil wir uns nicht ablenken lassen wollen auf unserer Suche nach dem perfekten Leben für das noch einige Entscheidungen zu treffen sind.

Anstatt Containerdörfer irgendwo hinter der Autobahn zu erreichten, dort Menschen unterzubringen und ihnen über Jahre mit Abschiebung zu drohen, sollten wir diese Heldinnen und Helden reinlassen in unsere Städte und Dörfer, von ihnen lernen und ihnen Respekt entgegenbringen für den Heldenmut, den sie aufgebracht haben, sich zu entscheiden. Wir sollten das Hiersein dieser Menschen nicht als Bedrohung, sondern vielmehr als Anerkennung und Chance begreifen, uns inspirieren lassen und uns gemeinsam freuen, unbeschwert und sicher nach dem guten Leben suchen zu können.